Bürgermeister warnen: „Wir sind überreguliert und unterfinanziert“
Was passiert, wenn die Kommunen nicht mehr in der Lage sind, grundlegende Aufgaben zu erfüllen? Im März 2025 verdeutlichten 22 Bürgermeister*innen in einem offenen Brief: Davon sind wir nicht mehr weit entfernt. Wir sprachen mit drei von Ihnen darüber, wie der Mangel an Ressourcen und zu viel Bürokratie das Rückgrat des Staates gefährden. Gleichzeitig wird deutlich: Die kommunale Krise ist eine Krise der Demokratie und auch ein Hebel für ihre Erneuerung.
Die kommunale Ebene ist das Fundament des Staates. Nirgendwo sonst sind die Bürger*innen der Demokratie so nah wie hier – in ihrer eigenen Stadt bzw. Gemeinde. Ein zukunftsfähiger Staat muss auch deshalb kommunale Akteure befähigen, statt zu blockieren. Warum also reagierten weder Landes- noch Bundesregierung mit einem Gesprächsangebot auf den offenen Brief der 22 hessischen Bürgermeister*innen? Ihre fehlenden Reaktionen symbolisieren eine komplexe Diskussion: Inwiefern muss die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen für einen handlungsfähigen, demokratisch resilienten und wirkungsorientierten Staat überdacht werden?
22 hessische Bürgermeister*innen unterschrieben im März 2025 einen offenen Brief mit dem Betreff: „Kommunale Finanznot gefährdet Demokratie – Dringender Handlungsbedarf in den Koalitionsverhandlungen“. Abgesehen von wenigen Standardantwortschreiben aus Abgeordnetenbüros gab es keine Reaktionen. Zurück bleiben 22 engagierte Bürgermeister*innen, die zwar Lösungsvorschläge für ihre Probleme haben, nur will sie scheinbar niemand hören. Wir haben mit Dreien von Ihnen dazu gesprochen.
Matthias Baaß (SPD) ist seit bald 30 Jahren Bürgermeister von Viernheim mit ca. 35.000 Einwohner*innen. Er wünscht sich, dass Landes- und Bundespolitiker*innen zuhören, den Dialog mit der Kommunalebene aktiv suchen und fragen: Was ist bei euch passiert, dass es diesen Brief braucht?
Helmut Glanzner (parteilos), seit 11 Jahren Bürgermeister in Einhausen (ca. 6.500 Einwohner*innen), wünscht sich, dass Kommunen nicht nur mit ihrer Kritik, sondern auch mit ihren Gestaltungsvorschlägen sichtbarer und ernst genommen werden. Politiker*innen könnten seiner Meinung nach viel stärker von den Erfahrungswerten der Kommunen profitieren, indem sie gezielt nachfragen.
Martin Hölz (parteilos) ist seit 2 Jahren Bürgermeister von Hirschhorn, einer Stadt mit ca. 3.500 Einwohner*innen. Er wünscht sich mehr Optimismus und Wertschätzung für das, was in den Kommunen bereits funktioniert. Oft würde zu sehr auf die Herausforderungen geschaut, während die vielen positiven Entwicklungen und das Engagement der Menschen vor Ort zu wenig Anerkennung fänden. Ihm ist wichtig, dass wir als Gesellschaft das, was schon gut läuft, stärker wertschätzen und mit Zuversicht und Mut die kommenden Aufgaben angehen.
Nittaya Fuchs: Herr Baaß, Sie haben die Finanznot der Kommunen in Ihrem offenen Brief deutlich aufgezeigt. Sie schreiben darin, dass die Krise der Kommunen auch eine Krise der Demokratie ist. Wie kommen Sie von der fehlenden finanziellen Unterstützung Ihrer Kommunen zur bröckelnden deutschen Demokratie?
Matthias Baaß: Erstens: Wir sind mit unseren Problemen und Forderungen nicht allein. Wie uns geht es vielen Kommunen deutschlandweit. Zweitens: Die Kommunen sind das Fundament unseres Staates. Wir sind die Verbindung zwischen Staat und Bürger*innen. Wir arbeiten direkt mit den Bürger*innen, hören ihre Sorgen und müssen ihnen Lösungen anbieten. Wir sind für die direkte Versorgung und den sozialen Frieden vor Ort verantwortlich. Doch während unsere Aufgaben immer vielfältiger und umfangreicher werden, verändert sich die finanzielle Unterstützung vom Bund nicht oder sogar zum Negativen. Die Bürger*innen verlieren ihr Vertrauen in den Staat und das politische System, wenn Leistungen einfach wegbrechen, Steuern trotzdem steigen und sich die Lebensqualität nicht erhöht oder gar sinkt. Das hat Auswirkungen auf das Vertrauen in und den Glauben an die Demokratie.
Nittaya Fuchs: Was kommt von dieser Krise der Kommunen und Demokratie bei den Bürger*innen an?
Martin Hölz: Kurz gesagt: Bürger*innen messen Demokratie in erster Linie an den konkreten Outputs, die sie im Alltag erleben – zum Beispiel daran, ob ein Spielplatz fertiggestellt oder eine Kita-Platzgarantie erfüllt wird. Wenn das nicht passiert, wächst die Politikverdrossenheit. Das führt wiederum zu einem Vertrauensverlust, der langfristig die demokratische Kultur gefährdet.
Helmut Glanzner: Wenn wir als Kommunen keine gute Versorgung stellen können, leiden soziale Stabilität, wirtschaftliche Existenzen und der gesellschaftliche Zusammenhalt in den Gemeinden. So öffnen sich Türen für extremistische Strömungen, die einfache Antworten auf komplexe Probleme versprechen.
Nittaya Fuchs: Herr Glanzner, was fordern Sie konkret von der Politik, um die Kommunen zu entlasten und ihnen die Möglichkeit zu geben, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken?
Helmut Glanzner: Zu oft übertragen uns Bundes- und Landesregierung Aufgaben, ohne die passenden Mittel zur Verfügung zu stellen. Dadurch fehlen nicht nur Ressourcen. Wir bekommen gleichzeitig auch immer mehr Vorgaben dafür, wie Aufgaben erledigt werden müssen. Kurz gesagt: Wir sind überreguliert und unterfinanziert. Beides hindert uns daran, effektive Lösungen zu entwickeln. Dafür tragen wir als gewählte Vertreter*innen aber eine Verantwortung. Ganz konkret geht es auch um das Thema Glaubwürdigkeit: Wenn wir Bürgermeister*innen den Bürger*innen Versprechen geben und diese dann aufgrund von Entscheidungen auf Landes- oder Bundesebene nicht halten können, erodiert nicht nur das Vertrauen in uns, sondern auch in das politische System. Wir brauchen mehr Entscheidungsfreiheit und flexible Mittelverwendung, statt zahlreicher, enger Vorschriften. Wenn uns dieser Raum zur Gestaltung gegeben wird, können wir vor Ort passende Lösungen entwickeln und gleichzeitig das Vertrauen in den Staat stärken.
Helmut Glanzner (parteilos), Bürgermeister von Einhausen
„Wenn uns dieser Raum zur Gestaltung gegeben wird, können wir vor Ort passende Lösungen entwickeln und gleichzeitig das Vertrauen in den Staat stärken.”
Nittaya Fuchs: Das sind keine neuen oder überraschenden Forderungen. Warum sind sie dennoch (wieder) in Form eines offenen Briefes notwendig?
Matthias Baaß: Es zehrt an den Kräften, dass wir uns wieder und wieder Gehör verschaffen müssen, ohne dass echte Veränderungen folgen. Der offene Brief ist ein Versuch, auf die Missstände aufmerksam zu machen – nicht nur in unserem Landkreis, sondern deutschlandweit. Wir wissen, dass wir mit unseren Sorgen nicht allein sind. Aber die Reaktionen von Landes- und Bundesebene auf unseren Brief gingen gegen null.
Nittaya Fuchs: Welche Reaktion hätten Sie sich denn gewünscht?
Helmut Glanzner: Was wir brauchen, ist ein Dialog, einen echten Austausch zwischen Kommunen und den politischen Entscheidungsträger*innen anderer Ebenen. Ein Gesprächsangebot aus diesen Richtungen zu den Inhalten des Briefes wäre eine gute Reaktion gewesen. Wir haben Landtags- und Bundestagsabgeordnete, die unsere Sorgen weitertragen sollten. Stattdessen entsteht bei uns der wiederkehrende Eindruck, dass unsere Probleme von Land und Bund nicht wirklich ernst genommen werden.
Nittaya Fuchs: Nun engagieren sich viele Akteur*innen innerhalb und außerhalb der Verwaltung und Politik für eine Staatstransformation. Eine Hauptmotivation für diese Transformation ist es, das Vertrauen der Bürger*innen in Staat und Demokratie zu stärken. Geht das mit Ihren Forderungen Hand in Hand, Herr Hölz?
Martin Hölz: Auf eine gewisse Art ja, denn es geht uns wie gesagt nicht nur um mehr Geld, sondern auch um mehr Entscheidungsfreiheit. Wir wünschen uns weniger Bürokratie und mehr Flexibilität bei der Verwendung von Mitteln und bei der Haushaltsführung. Momentan sind wir gefangen in einem System, das uns nur wenige Freiräume lässt, um innovativ und im Sinne der Staatstransformation zu handeln. Damit sie Realität wird, brauchen wir auf jeden Fall eine Veränderung in der Zusammenarbeit mit Bund und Land, sodass diese uns nicht nur Aufgaben übertragen, sondern uns auch die nötigen Mittel und Freiräume geben, um Lösungen zu finden.
Martin Hölz (parteilos), Bürgermeister in Hirschhorn
„Momentan sind wir gefangen in einem System, das uns nur wenige Freiräume lässt, um innovativ und im Sinne der Staatstransformation zu handeln.”
Nittaya Fuchs: Das neue Ministerium für Digitalisierung und Staatsorganisierung (BMDS) wird als großer Schritt zur Staatsmodernisierung gesehen. Angenommen, das Ministerium erfüllt Ihre Erwartungen: Was würde sich dann konkret für Kommunen verändern?
Matthias Baaß: In diesem Fall würde das BMDS vor allem dafür sorgen, dass wir wieder mehr Handlungsspielräume bekommen und gleichzeitig Bürokratie abgebaut wird. Konkret hieße das: mehr Flexibilität, mehr Entscheidungsfreiheit, keine zusätzlichen Vorschriften – mehr kommunale Selbstverwaltung.
Martin Hölz: Das Ministerium müsste Kooperationsstrukturen zwischen den verschiedenen Ebenen fördern, sodass Kommunen nicht nur Aufgaben übertragen bekommen, sondern auch aktiv in Entscheidungen auf Landes- und Bundesebene eingebunden werden. Es würde uns die Freiheit lassen, Lösungen vor Ort schnell umzusetzen, anstatt uns mit langwierigen Genehmigungsprozessen zu bremsen. Diese Veränderungen würden es uns als Kommunen ermöglichen, innovativer und agiler zu handeln und vor allem mutig neue Lösungen auszuprobieren, um den Herausforderungen vor Ort zu begegnen.
Nittaya Fuchs: Ihre Forderungen betreffen vor allem verbesserte Rahmenbedingungen für Kommunen. Gleichzeitig gibt es Dinge, die auf kommunaler Ebene trotz herausfordernder Bedingungen gut funktionieren. Welche Erfolgsfaktoren sind das, die Kommunen auszeichnen und die es zu stärken gilt?
Martin Hölz: Die Nähe zu den Menschen ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Wir wissen, was vor Ort gebraucht wird und können pragmatisch darauf reagieren. Auch die Motivation der Mitarbeitenden und Bürgermeister*innen ist enorm wichtig: Wir erleben immer wieder, wie viele Verwaltungsmitarbeitende mit den vorhandenen Mitteln Lösungen finden wollen – trotz schwieriger Rahmenbedingungen. Außerdem konnten wir durch interkommunale Zusammenarbeit viele Probleme gemeinsam lösen. Das hilft uns dabei, die begrenzten Ressourcen effizient zu nutzen.
Helmut Glanzner: Unsere Entscheidungsfreiheit und Handlungsfähigkeit sind genauso zentrale Erfolgsfaktoren. Genauso wie das miteinander und füreinander. Wir nehmen uns Zeit für unsere Bürger*Innen und deren Sorgen und Probleme. Dabei finden wir gemeinsam oft die richtigen Lösungen. Manchmal muss man pragmatisch handeln, um Lösungen zu finden. Das fällt aus meiner Sicht auf kommunaler Ebene oft leichter und ist ein weiterer wichtiger Erfolgsfaktor, auch zur Stärkung der Demokratie
Nittaya: Umso wichtiger ist es, dass Kommunen mutig sind, oder?
Matthias Baaß: Also, wenn es eine mutige und entscheidungsfreudige Ebene gibt, dann ist es die kommunale Ebene! Wenn wir mehr Freiheiten bekämen, wäre es das geringste Problem, diesen Mut und diese Entscheidungsfreude zu nutzen. Wir könnten dann in unserem eigenen Tempo handeln und Entscheidungen schnell umsetzen.
Martin Hölz: Wir verstehen uns auch als ‚Ermöglicher*innen‘ auf lokaler Ebene – als Akteure, die durch pragmatische, schnelle und lösungsorientierte Ansätze einen direkten positiven Impact auf das Leben der Menschen haben können. Und mit mutigen Entscheidungen ist die Frage verbunden: Wer übernimmt die Verantwortung für Fehler – wenn sie denn passieren? Wir suchen als Gesellschaft gerne und häufig eine*n Schuldige*n. Das führt nicht nur dazu, dass weniger Menschen Verantwortung übernehmen wollen. Vielmehr handelt man so, dass möglichst gar keine Verantwortung an einem selbst hängen bleibt – aus Angst davor, für Fehler abgestraft zu werden.
Martin Hölz (parteilos), Bürgermeister in Hirschhorn
„Mit mutigen Entscheidungen ist die Frage verbunden: Wer übernimmt die Verantwortung für Fehler – wenn sie denn passieren?”
Nittaya Fuchs: Was müsste sich aus Ihrer Sicht verändern, damit mehr politische Entscheidungsträger*innen auf allen Ebenen wieder den Mut finden, Verantwortung zu übernehmen – auch wenn das bedeutet, Fehler zu machen und im Zweifelsfall mit Kritik oder Schuldzuweisungen konfrontiert zu werden?
Matthias Baaß: Meiner Erfahrung nach kommt man in solchen Fällen nur mit Ehrlichkeit, Offenheit und Transparenz weiter. Wenn etwas nicht optimal gelaufen ist, muss man es bekennen und erklären, warum es so war. Letztlich können wir nur hoffen, dass sich die Bürger*innen ein ausgewogenes Gesamtbild machen und verschiedenen Aspekte berücksichtigen. Das hängt auch sehr von den Medien ab, die in unserer heutigen Zeit oft eher auf Aufregung und Skandalisierung setzen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Aber wir müssen den Mut haben, uns auch mit Fehlern zu zeigen und diese als Teil des Lernprozesses zu akzeptieren.
Helmut Glanzner: Ich bin überzeugt davon, dass die Bürger*innen dankbar sind, wenn wir ehrlich und transparent agieren, wenn wir Gründe dafür nennen, warum ein Projekt nicht gänzlich positiv verlaufen ist. Vereinfachte Rahmenbedingungen müssen umgehend geschaffen werden, um Menschen vor Ort für das wichtige Ehrenamt in den Gremien der Kommunen zu begeistern. Wir sind dann als Bürgermeister*innen auch gefordert, Klarheit zu schaffen und aufzuzeigen, warum etwas nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat. Wir müssen authentisch bleiben und die Wahrheit sagen. Und damit sind wir im Übrigen wieder beim eingangs erwähnten Thema der Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, auch die zahlreichen gelungenen Projekte und Maßnahmen vor Ort zu erwähnen, denn diese sind oft durch zielgerichtetes, lösungsorientiertes Arbeiten gemeinsam mit den politischen Entscheidungsträgern geschaffen worden. Das soll gleichzeitig Motivation sein, sich politisch zu engagieren, um mitzuwirken und seine Heimat zu gestalten. Die Kommunen sind der Ort der Wahrheit!
Fazit: Kommunen als Möglichkeitsräume der Staatstransformation
Das Gespräch mit den Bürgermeistern verdeutlicht: Die Krise der Kommunen ist nicht nur eine Krise der Demokratie, sondern auch eine Chance zur Erneuerung. Sie sind Grundlage des Staates und Orte, an denen Demokratie und Transformation greifbar werden. Die engagierten Menschen in den Kommunen bemühen sich, trotz erschwerter Bedingungen gute Arbeit für die Bürger*innen vor Ort zu leisten. Vieles wird dadurch möglich und gut – was vielleicht auch ein Grund dafür ist, dass der Handlungsdruck für die Politik nicht stärker spürbar ist.
Die Nähe der Kommunen zu den Bürger*innen, ihre Flexibilität und ihr Engagement machen sie zu idealen Laboren für staatliche Innovationen. Doch damit Kommunen ihre Potenziale ausschöpfen können, braucht es mehr als nur bessere Rahmenbedingungen. Es braucht einen inneren Wandel: neue Formen der Zusammenarbeit, eine Kultur des Lernens und der Fehlerfreundlichkeit, sowie ein mutiges Umdenken in den Strukturen und Prozessen. Hinzu kommt, dass die verschiedenen staatlichen Ebenen in Deutschland zu stark voneinander entkoppelt sind. Wenn dies nicht geändert wird, bleiben echte Zusammenarbeit und die Umsetzung kommunaler Potenziale aus.
Kommunen sind bereit, Verantwortung zu übernehmen – nun muss der Staat sie als aktive Gestalter der Transformation anerkennen und echte Co-Governance ermöglichen. So wird aus der kommunalen Krise ein demokratischer Möglichkeitsraum, in dem die Zukunft des Staates neugestaltet wird.
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