Andre­as Rickert im Inter­view mit epd

Kre­di­te für die Zivil­ge­sell­schaft sind kei­ne Lösung.”

Andre­as Rickert im Inter­view mit dem Evan­ge­li­schen Pres­se­dienst am 4. Juni 2020. Das Gespräch führ­te Dirk Baas.

Herr Rickert, die Coro­na-Pan­de­mie beu­telt alle Bran­chen, wenn auch nicht in glei­cher Wei­se. Sie befürch­ten, dass vie­le gemein­nüt­zi­ge Orga­ni­sa­tio­nen die Kri­se nicht über­ste­hen. Ist die Lage wirk­lich so dramatisch?

Der gemein­nüt­zi­ge Sek­tor steht unter rie­si­gem Druck, und das aus zwei Grün­den. Coro­na ver­stärkt sozia­le Pro­ble­me und ver­hin­dert gleich­zei­tig die drin­gend benö­tig­te Arbeit mit und für Men­schen. Die ande­re Sei­te ist eine wirt­schaft­li­che. Orga­ni­sa­tio­nen oder Ver­ei­ne, die sich durch eige­ne Ein­nah­men finan­zie­ren, sind akut gefähr­det, da geht es ihnen nicht anders als Wirt­schafts­un­ter­neh­men. Eine Insol­venz droht aber auch denen, die sich durch För­der­mit­tel und pri­va­te Spen­den finan­zie­ren. In weni­gen Mona­ten wird die Dra­ma­tik der Lage spür­bar. Wer das jetzt noch nicht wahr­ha­ben will, ist blauäugig.

Jetzt will die Regie­rung Non-Pro­fit-Orga­ni­sa­tio­nen, Ver­ei­nen und Stif­tun­gen doch noch mit Geld unter die Arme grei­fen. Beim KfW-Ret­tungs­schirm wur­den sie noch aus­ge­las­sen. War das nicht ein irrepa­ra­bler Fehler?

Ein Feh­ler, ja. Und vor allem unver­ständ­lich. Gemein­nüt­zi­ge Orga­ni­sa­tio­nen und Ver­ei­ne sind sys­tem­re­le­vant, wenn es um gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt geht. Sie wer­den gebraucht, in der Kri­se und zu ihrer Bewäl­ti­gung. Gemein­nüt­zig­keit ist ja kein Selbst­zweck, son­dern unver­zicht­ba­res sozia­les Enga­ge­ment und sozia­le Arbeit für mehr gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt. Da geht es um die Schwächs­ten in der Gesell­schaft, um Inte­gra­ti­on, Bil­dung, Demo­kra­tie­för­de­rung und vie­les mehr. Außer­dem ist die gemein­nüt­zi­ge Bran­che rie­sig, das wird oft unter­schätzt. Ihre Wirt­schafts­kraft ist ver­gleich­bar mit der gesam­ten Bau­bran­che in Deutsch­land. Sie beschäf­tigt rund 3,7 Mil­lio­nen Men­schen, ein rie­si­ger Arbeit­ge­ber im Land. Ich kann bis heu­te nicht ver­ste­hen, dass die Poli­tik all das nicht von Anfang an im Blick hatte.

Jetzt wird eine Mil­li­ar­de Euro für Dar­le­hen zur Ver­fü­gung zu gestellt. Das klingt als Hil­fe für bis zu 600.000 zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen nicht gera­de üppig und wird aus Ihrer Sicht nur bedingt hel­fen. Warum?

Gemein­nüt­zi­ge Orga­ni­sa­tio­nen und Ver­ei­ne arbei­ten nicht gewinn­ori­en­tiert, das ist anders als in der Wirt­schaft. Die Kos­ten für Mit­ar­bei­ten­de, Mie­te und Strom lau­fen aber auch bei ihnen wei­ter. Und die Gemein­nüt­zig­keit lässt die Bil­dung finan­zi­el­ler Rück­la­gen nicht zu. Kre­di­te kön­nen zwar aku­te Finan­zie­rungs­lü­cken schlie­ßen und Insol­ven­zen vor­erst abwen­den, sie müs­sen aber spä­ter zurück­ge­zahlt wer­den. Das ist für die meis­ten Orga­ni­sa­tio­nen unmög­lich, kann ihre finan­zi­el­le Situa­ti­on sogar noch verschärfen. 

War­um ist es so schwer, gewähr­te Kre­di­te wie­der zurück­zu­zah­len, wenn die Kri­se über­wun­den ist und die Orga­ni­sa­tio­nen im Regel­be­trieb wie­der Ein­nah­men haben?

Wann der Regel­be­trieb voll­stän­dig wie­der auf­ge­nom­men wer­den kann, weiß zur­zeit nie­mand. Und auch dann kön­nen aus­ge­fal­le­ne Ein­nah­men von meh­re­ren Mona­ten nicht kom­pen­siert wer­den. Ein­tritts­prei­se in kul­tu­rel­le Ein­rich­tun­gen zum Bei­spiel, Gebüh­ren für Work­shops oder Ver­kaufs­prei­se für Pro­duk­te von Behin­der­ten­werk­stät­ten kön­nen nicht will­kür­lich erhöht wer­den. Vie­le Ange­bo­te sind ohne­hin kos­ten­frei. Kre­di­te kön­nen viel­leicht die finan­zi­el­len Lücken aus der Coro­na­zeit schlie­ßen, für die Rück­zah­lung aber braucht es Mehr­ein­nah­men, und die gibt es nicht. 

Steckt dahin­ter nicht ein grund­sätz­li­ches Pro­blem, Stich­wort Gemein­nüt­zig­keit. Könn­te man nicht zu ande­ren finan­zi­el­len Regeln kom­men, die mehr Rück­la­gen erlau­ben, um so dann bes­ser durch künf­ti­ge Kri­sen zu kommen?

Das ist eine unse­rer For­de­run­gen aus unse­rem Auf­ruf an die Bun­des­re­gie­rung. Es hat sich früh gezeigt, dass die Zivil­ge­sell­schaft nicht mit den glei­chen Maß­nah­men wie die Wirt­schaft geret­tet wer­den kann. Aus einer Umfra­ge im April 2020 unter knapp 300 gemein­nüt­zi­gen Orga­ni­sa­tio­nen ken­nen wir die Aus­wir­kun­gen der Coro­na­kri­se auf die Zivil­ge­sell­schaft und die Bedar­fe sehr gut. 97,5% der befrag­ten Orga­ni­sa­tio­nen gaben an, dass sie von nega­ti­ven Fol­gen der Coro­na-Kri­se betrof­fen sind, jede zehn­te Orga­ni­sa­ti­on ging schon zu die­sem Zeit­punkt von der Gefahr einer Insol­venz aus. Wirk­lich hel­fen kön­nen nur Zuschüs­se, die nicht zurück­ge­zahlt wer­den müssen.

Der­zeit sieht es nicht danach aus, dass die Ver­ei­ne und Stif­tun­gen vom Bund Zuschüs­se statt Dar­le­hen bekom­men. Lässt sich aus Ihrer Sicht am Kon­junk­tur­pa­ket spä­ter dann noch etwas korrigieren? 

Die Bun­des­re­gie­rung hat auf die zahl­rei­chen War­nun­gen aus der Zivil­ge­sell­schaft reagiert. Die nun beschlos­se­nen Kre­dit­zu­gän­ge sind ein ers­ter wich­ti­ger Schritt. Ein Signal, dass die Zivil­ge­sell­schaft nicht ver­ges­sen wird. Wei­te­re Maß­nah­men müs­sen aber fol­gen. Wirt­schafts­un­ter­neh­men kön­nen von künf­ti­gen Gewin­nen Kre­di­te zurück­zah­len, gemein­nüt­zi­ge Unter­neh­men kön­nen das nicht. Sie machen ja kei­ne Gewin­ne. Für einen Ret­tungs­schirm für die Zivil­ge­sell­schaft braucht es pass­ge­naue Maß­nah­men, nur dann hat er die­sen Namen auch verdient. 

Kön­nen die Kre­di­te spä­ter nicht zurück­be­zahlt wer­den, kann es zu einer gewal­ti­gen Plei­te­wel­le kom­men. Wel­che Bran­chen wären vor allem betrof­fen und wie vie­le Jobs ste­hen hier auf dem Spiel?

Grund­sätz­lich kann es jede gemein­nüt­zi­ge Orga­ni­sa­ti­on in jedem Bereich tref­fen. Am bes­ten geht es noch den Orga­ni­sa­tio­nen, die sozia­le Dienst­leis­tun­gen vom Staat über­neh­men und dafür direk­te Zuwen­dun­gen erhal­ten. Kitas oder Pfle­ge­ein­rich­tun­gen zum Bei­spiel. Dra­ma­tisch wird die Lage für vor­wie­gend pri­vat finan­zier­te Orga­ni­sa­tio­nen. Wir ken­nen vie­le, die mit einer ech­ten gesell­schaft­li­chen Wir­kung und leis­tungs­fä­hi­gen Struk­tu­ren arbei­ten, aber auch sie schau­en mit Sor­ge in die Zukunft. Sie wol­len die Chan­cen des Umbruchs nut­zen und zum Bei­spiel in Digi­ta­li­sie­rung inves­tie­ren, aber dazu wer­den Gel­der jen­seits der rei­nen Pro­jekt­fi­nan­zie­run­gen benötigt. 

Der Betreu­ungs- und Bera­tungs­be­darf ist durch Coro­na eher gestie­gen als gesun­ken, von der Sucht­hil­fe bis hin zu Obdach­lo­sen­pro­jek­ten. Wenn jetzt mit­tel­bar vie­le Trä­ger die Kri­se nicht über­le­ben, droht eine über­aus heik­le sozia­le Lage. Wie bli­cken Sie in die nähe­re Zukunft?

Durch Coro­na wer­den sozia­le Ungleich­hei­ten und Span­nun­gen in der Gesell­schaft wei­ter ver­stärkt. Noch vor weni­gen Mona­ten haben uns auch Ereig­nis­se wie in Hanau und Thü­rin­gen mit Ent­set­zen und gro­ßer Sor­ge erfüllt. Doch obwohl dazu öffent­lich im Moment wenig zu hören ist: Rechts­po­pu­lis­ti­sches Gedan­ken­gut, Het­ze und Gewalt ken­nen kei­nen Shut­down. Wer eine star­ke Demo­kra­tie will, braucht eine vita­le Zivil­ge­sell­schaft. Ein Ret­tungs­schirm für die Zivil­ge­sell­schaft ist auch ein Ret­tungs­schirm für gesell­schaft­li­chen Zusammenhalt.

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